1.-Augustrede 2010

Liebe Leute – Im Rahmen von 1. Augustreden werden Mythen beschworen, Tugenden gelobt und Fakten verklärt. Das ist gut so und schafft erst die feierliche Stimmung. Das soll aber den Blick auf die Gegenwart und auf die Zukunft nicht ganz verstellen.
Da haben also Anfang August 1291 offenbar drei unentwegte Männer auf dem Rütli zusammengefunden und sich gegenseitige Unterstützung versprochen. Sie haben sich zusammengeschlossen, um gemeinsam gegen fremde Mächte und für Selbstbestimmung zu kämpfen. Dieser Zusammenschluss hat nach aussen Stärke und Selbstsicherheit bewirkt. Nach innen hat er wohl (wie jeder Zusammenschluss) auch Autonomieverlust und den Zwang zum Kompromiss zur Folge gehabt. Die drei mutigen und unabhängigen Männer haben also mit Blick auf das übergeordnete grosse Ziel Einschränkungen ihrer jeweiligen individuellen Rechte in Kauf genommen und im Gegenzug zu gegenseitigen Pflichten JA gesagt.
Das war der Startschuss zu einer regelrechten Erfolgsstory!
Nach und nach gesellten sich weitere Bundesgenossen zu den Grün-dern. Die Eidgenossenschaft wuchs. Allerdings nicht gradlinig und konfliktfrei. Untertanengebiete mussten sich erst befreien und emanzipieren, seinerzeitige Grossmächte mussten ihre Machtansprüche zügeln, konfessionelle Konflikte mussten gelöst, regionale und wirtschaftliche Unterschiede reduziert, Währungen und Masseinheiten vereinheitlicht werden.
Was für die drei Gründer galt, traf auch auf den nachfolgenden Integrationsprozess zu. Neue Bündnispartner hatten die bisherigen Spielregeln zu beachten, die alten Bündnispartner hatten auf die Bedürfnisse der neuen Bundesgenossen Rücksicht zu nehmen. Wiederum mussten beide Seiten Kompromisse eingehen und Autonomieverluste in Kauf nehmen.
Und dass wir uns recht verstehen: Dies alles geschah nicht einfach aus purer idealistischer Romantik. Es ging immer auch um die Wahrung handfester Interessen. Es ging um militärisches Drohpotential, wirtschaftliche Entwicklungsperspektiven und grösstmögliches Selbstbestimmungsrecht unter Inkaufnahme von Zugeständnissen in untergeordneten Nebenfragen.
Die diversen Integrationsschritte setzten auf allen Seiten eine emotionslose Analyse der Interessenlage, politische Klugheit und Verantwortung für das Ganze voraus. Der Integrationsprozess musste jeweils sorgfältig geplant und mutig umgesetzt werden.
Und das alles dauerte!
Erst in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts fand die Schweizerische Eidgenossenschaft zu ihrer modernen und in den Grundzügen heute noch geltenden Form. Aber selbst seit der Gründung der modernen Schweiz in der Mitte des 19. Jahrhundert sind dauernde Reformen im Gang. Es sei an die Gründung des Kantons Jura im Jahr 1979 oder an die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen NFA erinnert, die erst 2008 in Kraft ge-treten ist.
Auch nach 720 insgesamt erfolgreichen, gelegentlich schmerzhaften und fast immer mühsamen Jahren wird also am Modell Schweiz weiter entwickelt, gearbeitet und reformiert.
Die Reformarbeit hat sich gelohnt und lohnt sich immer noch. Das Modell Schweiz ist ein Erfolgsmodell – ein Integrations-Erfolgsmodell, um genau zu sein!
Die Frage muss aber nicht nur erlaubt sein, sondern für verantwortungsbewusste Zeitgenossen zwingend gestellt werden:
Sind wir am Ende der Fahnenstange angelangt? Reichen künftig kosmetische Feinjustierungen am insgesamt sehr erfolgreichen Modell Schweiz? Oder ist das Modell Schweiz gerade deshalb sehr erfolgreich, weil unsere Vorväter im richtigen Moment auch mutige und grosse Schritte über die jeweiligen territorialen Grenzen hinaus gemacht haben?
Ich glaube Sie merken, worauf ich hinaus will: Die Schweizerische Eid-genossenschaft wird ihr Verhältnis zur Welt und insbesondere zu Europa klären müssen. Und dafür haben wir mit Sicherheit nicht mehr 720 Jahre Zeit!
Ich will ihnen den Abend nicht verderben und belasse es deshalb bei ein paar Hinweisen:
Seit der Unterzeichnung der Römer Verträge 1957 ist die Geschichte der Europäischen Integration eine Erfolgsgeschichte.
Frieden, Demokratie und ein beachtlicher Wohlstand sind in Europa selbstverständlich geworden. Vor und/oder ausserhalb der EWG bzw. der EU war das anders. Wir wollen uns nicht wichtiger nehmen als wir sind. Aber manchmal hat man das Gefühl, das Modell Europa habe am Modell Schweiz Mass genommen.
Wirtschaftlich ist die Schweiz untrennbar mit Europa verflochten. Und wenn europakritische Scherzbolde erklären, die EU-Exporte in die Schweiz seien höher als die EU-Importe aus der Schweiz und deshalb sei Europa mehr auf die Schweiz angewiesen als umgekehrt, dann ist das so wie das Mäuschen mit dem Föhnsturm:
Als das Mäuschen gegen den Föhnsturm gefurzt hat, meinte es ganz selbstbewusst: Es isch gäng das…
Bruttoinlandproduktbereinigt sprechen wir nämlich von einem Faktor Zwanzig: Während die Schweiz rund 25 % ihres BIP nach EU expor-tiert, exportiert die EU rund 1,3 % ihres BIP in die Schweiz – die jeweiligen Interessenlagen sind damit wohl klar!
Kulturell und sprachlich bildet die Schweiz den Schmelztiegel dreier europäischer Leitkulturen. Das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Sprachen, Kulturen und Religionen und Nationalitäten funktioniert bei uns insgesamt ja erstaunlich gut.
Geografisch sind wir von langsam ungeduldig werdenden Freunden umgeben und im Herzen Europas gelegen. Das hatte bisher viele Vorteile – bisher!
Unter uns gesagt: Aufgrund einer emotionslosen Analyse der Interessenlage, mit politischer Klugheit und aus Verantwortung für das Ganze hätte die Schweiz das Zeug dazu, nicht nur im Herzen Europas zu liegen. Die Schweiz könnte sogar das Herz Europas werden – das Erfolgsmodell Schweiz und unsere jahrhundertealte Erfahrung mit Integrationsprozessen würden eigentlich dafür sprechen!
Mindestens der erste Schritt, nämlich die emotionslose Analyse unserer Interessenlage, ist deshalb überfällig!
Das muss ohne populistischen Lärm möglich sein – über die Interpretation und die Schlussfolgerungen dieser Analyse können wir dann immer noch streiten.
Aber bitte in gut eidgenössischer, respektvoller und konstruktiver Art.
Und dann sollten politisch kluge aber nicht schlaumeierische Folgeschritte möglich sein – in Verantwortung für das Ganze und zum Besten des Ganzen. Zu dem wir ja auch gehören, so oder so