6. IV-Revision. Zweites Massnahmenpaket

 

Zanetti Roberto (S, SO): Wie Sie richtig festgestellt haben, beantrage ich Ihnen die Streichung der zweiten Stufe des Interventionsmechanismus, also die vorgeschlagenen Absätze 3 und 4 wegzunehmen. Auf den ersten Blick erscheint die vom Bundesrat vorgeschlagene zweite Stufe durchaus fair und vernünftig. Es wird die Opfersymmetrie gewahrt, indem sowohl Mehreinnahmen als auch Leistungskürzungen vorgeschlagen werden. Zum einen sollen die Lohnbeiträge erhöht werden, zum anderen sollen die Renten nicht mehr der Lohn- und Preisentwicklung angepasst werden. Daraus resultieren Rechnungsverbesserungen von je 300 Millionen Franken, also insgesamt eine Verbesserung der IV-Rechnung um 600 Millionen, schön hälftig auf Einnahmen- und Ausgabenseite verteilt. Diese Massnahmen sollen so lange in Kraft bleiben, bis der Bestand des Fonds wieder auf die ursprüngliche Höhe gehoben werden kann.
Was auf den ersten Blick als fair und vernünftig erscheint, ist meines Erachtens bei einer etwas globaleren Sichtweise auf unsere Sozialversicherungen AHV und IV recht problematisch, und ich sehe, ehrlich gesagt, verfassungsrechtlich ein paar Probleme. Der Interventionsmechanismus, wie er vom Bundesrat vorgeschlagen wird, führt nämlich dazu, dass AHV- und IV-Renten auseinanderdriften. Die AHV-Renten werden weiterhin an die Lohn- und Preisentwicklung angepasst, die IV-Renten hingegen sollen eingefroren, das heisst nicht mehr der Lohn- und Preisentwicklung angepasst werden. Sie sollen allenfalls nach fünf Jahren zwar wieder der Preisentwicklung, aber eben nicht der Lohnentwicklung angepasst werden. Das heisst klipp und klar: Mit diesem Mechanismus wird eine unterschiedliche Entwicklung der beiden Rentenfamilien vorgeschlagen, oder, um es ein bisschen drastischer zu sagen: Wir lassen die schwächsten Glieder unserer Gesellschaft am Wegrand stehen, wenn es darum geht, den Weg zu mehr gesellschaftlichem Wohlstand zu beschreiten.
Da stellen sich für mich zwei Fragen: Wollen wir das, und dürfen wir das überhaupt? Ob wir das wollen, muss jeder und jede für sich entscheiden. Ich will das ganz klar nicht, für mich ist das auch eine Frage der Fairness. Ob wir das aber dürfen, muss mit Blick auf die Bundesverfassung beurteilt werden. Ich erlaube mir deshalb, einen Blick in die Bundesverfassung zu werfen. Ich nehme nicht den Zweckartikel, der da sagt, die Schweizerische Eidgenossenschaft sei zur Förderung der gemeinsamen Wohlfahrt verpflichtet. Ich wiederhole: zur Förderung der gemeinsamen Wohlfahrt; da sind meines Erachtens auch IV-Rentnerinnen und IV-Rentner mitgemeint. Ich nehme bewusst nicht diesen Allerweltsartikel, sondern beziehe mich auf Artikel 112, auf die Grundlage der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung.
Genauso wird der Artikel betitelt: „Artikel 112, Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung.“ Für mich ergibt sich daraus, dass der Verfassungsgeber die AHV und die IV als Einheit verstanden wissen will. Es ist gewissermassen eine sozialversicherungsrechtliche Dreieinigkeit, nämlich eben Alter, Hinterlassenschaft und Invalidität.
Das ergibt sich auch aus dem Wortlaut von Absatz 1 des genannten Artikels, der da heisst: „Der Bund erlässt Vorschriften über die Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung.“ Auch da werden AHV und IV in einem Atemzug genannt.
Absatz 2 macht es dann wirklich für jedermann und jede Frau klar. Er lautet nämlich: „Er“, der Bund, „beachtet dabei folgende Grundsätze: Die Versicherung ist obligatorisch.“ Er spricht da von einer Versicherung in der Einzahl, aber er meint natürlich Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung. Das ist für den Verfassungsgeber sogar eine einzige Versicherung.
In Litera b von Absatz 2 heisst es: „Die Renten haben den Existenzbedarf angemessen zu decken.“ Beim Leistungsziel der Renten in Litera b wird nicht zwischen AHV- und IV-Renten unterschieden. Es ist deshalb absolut klar, dass der Gesetzgeber sich an den Willen des Verfassungsgebers halten muss und im Rahmen der Ausführungsgesetzgebung diese siamesischen Drillinge von Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenrenten nicht auseinanderreissen kann.
Ein kleiner Hinweis noch auf Litera d von Absatz 2: Da werden dem Gesetzgeber ganz klare Handlungsanweisungen bezüglich Ausgleichsmechanismus der Renten, und zwar sowohl der AHV- wie auch der IV-Renten, gesetzt. Dieser Buchstabe lautet nämlich:
„Die Renten“, da steht die Mehrzahl, es sind also Renten der Alters-, der Hinterlassenen- und der Invalidenversicherung damit gemeint, „werden mindestens der Preisentwicklung angepasst.“ Es ist also klar, der Verfassungsgeber will zwei Sachen ganz klipp und klar darstellen: AHV und IV sind Zwillinge, die nicht auseinandergerissen werden können, und die Renten müssen der Preisentwicklung mindestens angepasst werden.
Ich bin überzeugt, dass Sie irgendwelche Spezialisten für Verfassungsrecht finden werden, die das dann anders interpretieren. Aber eine Verfassung ist kein Steinbruch für irgendwelche Rechtsgelehrte, die sich da ihre Gutachten zusammenschreiben können. Eine Verfassung ist erstens einmal eine Handlungsanleitung für uns als Gesetzgeber, und eine Verfassung ist insbesondere Garantin für die Schwächsten in unserer Gesellschaft. Deshalb werde ich keine Sekunde staunen, wenn Sie mir da irgendeinen Professor zitieren. Aber für mich gilt der Text der Verfassung, und es gelten nicht irgendwelche wilden Interpretationen.
Ich möchte Sie daran erinnern, dass hier im Saal einige vor noch nicht allzu langer Zeit, andere vor etwas längerer Zeit einen Eid oder ein Gelöbnis abgelegt haben, wonach wir die Verfassung und die Gesetze beachten wollen.
Wenn das ernstgemeint war, dann dürfen wir die Absätze 3 und 4 von Artikel 80 so nicht durchwinken. Ich muss dem Herrn Bundesrat Folgendes sagen: In der Botschaft heisst es unter Ziffer 5.1 auf Seite 5828 unter dem Titel Verfassungs- und Gesetzmässigkeit: „Die vorliegende Revision stützt sich auf Artikel 112, Absatz 1 BV und, soweit sie die Eingliederung betrifft, auf Artikel 112b Absatz 1 BV.“ Das ist alles, was Sie zur Verfassungsmässigkeit sagen. Ich finde das, ehrlich gesagt, ein wenig dünn. Korrekterweise hätten Sie schreiben müssen, dass sich die vorliegende Revision auf Artikel 112 Absatz 1 stütze und ganz klar Artikel 112 Absatz 2 BV widerspreche. Als Gesetzgeber können wir dann entscheiden, ob wir diese Abenteuerfahrt machen wollen.
Meiner Meinung nach ist das eine Fehlentwicklung und würde Sprengstoff in unser Sozialversicherungssystem bringen. Ich bin überzeugt, dass diese Regelung zum Sargnagel der Vorlage wird, wenn sie dereinst in einen Referendumskampf gehen muss. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wissen ganz genau, dass mit diesem Interventionsmechanismus in der IV irgendeinmal, am Tage X, ein ähnliches Modell bei der AHV implementiert werden wird, so dass auch dort keine Anpassung mehr an Lohn- und Preisentwicklungen stattfinden wird. Ich bin überzeugt, dass die Schweizer Bevölkerung das nicht will, und bin auch überzeugt, dass die Verfassung das gar nicht zulässt. Deshalb befürchte ich, dass genau diese Regelung zum Stolperstein für die ganze Vorlage werden könnte. Ich bin der Meinung, dass man vonseiten des Bundesrates im Rahmen der ersten Stufe des Interventionsmechanismus die Möglichkeit hat, uns Gesetzesänderungen vorzuschlagen, die sich an die Verfassung halten und die eine unterschiedliche Entwicklung der AHV- und der IV-Renten ausschliessen. Ich würde dem Herrn Bundesrat wirklich beliebt machen, sich nicht nur an die technischen Artikel der Bundesverfassung, sondern insbesondere auch an die Präambel der Bundesverfassung zu halten, die da sagt, dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst. Wenn Sie sich an diesen Grundsatz halten, dann können Sie nicht fehlen, und dann werden Sie uns Gesetzesvorlagen unterbreiten, denen wir zustimmen können. Hier kann ich nicht zustimmen.
Ich bitte deshalb die Ratskolleginnen und Ratskollegen, meinem Einzelantrag zuzustimmen und die Absätze 3 und 4 von Artikel 80 zu streichen, um so der Vorlage in einem allfälligen Referendumskampf zumindest eine minimale Chance zu geben.

Anmerkung: Der Antrag Zanetti wird mit 30 zu 11 Stimmen abgelehnt.

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